Die Beispiele

 

Ich kenne Bernd seit einem Jahr, Bernd ist 15. Seine Ursprungsfamilie ist in desolatem Zustand, sie lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Eltern sind seit einiger Zeit geschieden. Bernd lebte bis zu seiner Unterbringung in meinem Haus bei seiner Mutter. Die ist immer wieder arbeitslos, spricht dem Alkohol kräftig zu und hat häufig wechselnde Partner. Bernd hat zwei jüngere Geschwister, die ambulant betreut werden.

Bernd ist in nahezu allen Punkten unterentwickelt, geistig auf dem Stand eines 8-jähigen, körperlich ein Blatt im Wind und seelisch wie ein geprügelter Hund. Bernd nervt; er fordert in Gruppen immer wieder die anderen heraus, ihm negative Aufmerksamkeit zu schenken. Bernd braucht reichlich Bestätigung und Raum, seine fantastischen Geschichten zu erzählen. Er ist in einem Maß ungeschickt, dass es mir immer wieder die Tränen in die Augen treibt. Er geht achtlos mit sich um, seine Kleidung ist voller Löcher und stets schmutzig. Es scheint, als nenne er nichts sein eigen. Alles, was er besitzt, wird achtlos behandelt, verloren, kaputtgemacht, als habe es keinen Wert für ihn.

Bernd arbeitet seit zwei Monaten bei uns mit. In der Anfangsphase hat er sich ständig geweigert zu arbeiten und hat versucht, uns anderen aufzuhalten, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Bei jeder ihm übertragenen Arbeit hat er erst mal gesagt, „das kann ich nicht“. Wir haben mit einfachen Aufgaben begonnen und ihm viel Zuspruch für Geleistetes gegeben. Die ersten Wochen war er sehr ungeschickt, vieles misslang. Nach ca. drei Wochen startete er plötzlich mit ungeahntem Schwung sein eigenes Projekt. Er wollte etwas für sich bauen: einen Korb aus kleinen Zweigen. Der gelang mit Hilfe seiner Betreuer sehr gut. Nun werden es immer mehr Körbe, die er baut, und sie werden immer besser. Er fängt an, sich Arbeitserleichterungen zu schaffen, und es gelingt ihm mehr und mehr, seine Arbeitsqualität einzuschätzen. Es macht uns Spaß, am Feierabend mit Bernd vor der Werkbank zu stehen und ihm zuzuhören, wie er sehr realistisch sein Werkstück einschätzt, und wie er auch ehrlich formulieren kann, wie er sich den Tag über verhalten hat. Inzwischen erscheint Bernd immer häufiger mit sauberer Arbeitskleidung und fängt an, sich als Teil der Werkstattgemeinschaft wahrzunehmen. Er redet immer noch viel, stört und begreift Arbeitsabläufe nicht; aber wir haben innerhalb von acht Wochen eine Basis für weitergehende Veränderung geschaffen.

Josi ist erst drei Wochen da, ist 18 Jahre alt, ist seit zwei Jahren nicht mehr zu Schule gegangen, schlief unter Brücken, kiffte und klaute sich sein Essen zusammen..  Er wurde aufgegriffen und bei uns „angeliefert“. Er wurde zur Schule geschickt und schrieb mehrere Zweien, was zeigt, dass er sehr, sehr schulbegabt ist.  Er verweigerte sich aber total. Sein Betreuer brachte ihn in die Werkstatt mit, da griff er sich ein Stück Holz und begann, daran herumzuschnitzen. Am nächsten Tag erschien er um Punkt halb neun in der Werkstatt, am übernächsten Tag auch, - und er fing an zu „basteln“. Am vierten Tag fragte ich ihn, ob sein Bett zu hart sei, was ihn denn in die Werkstatt triebe. Er sagte: „Dies ist in meinem ganzen Leben das Erste, was überhaupt Sinn macht, da will ich dazugehören“.

Rainer und Daniel sind beide 16. Rainer lebt seit fast drei Jahren bei mir und ist gerade durch die Volksschul-Prüfung gefallen. Jetzt kommt er täglich mit in die Werkstatt. Daniel flog mit 13 aus seiner letzten Schule und wird von keiner mehr genommen (obwohl Schulpflicht ist in Deutschland), weil er nicht lernen kann. Er ist vom Naturell freundlich und zugewandt, aber absolut hilflos, wenn es um „Lernen“ geht. Daniel war mein erster Praktikant in der Werkstatt. Er hat inzwischen Grobmotorik entwickelt und beginnt, Holz mit kreativem Blick anzusehen – und etwas draus zu machen: Ein Kindertisch samt Bank und Stühlchen sind entstanden. Und Daniel ist stolz darauf. Ich berichte das, weil diese beiden neulich Abend vor mir standen und ohne Übergang fragten, ob man den Volksschulabschluss in Abendkursen nachmachen könnte, und das wollten sie bitte gern versuchen. Ich hätte das Thema nie berührt. Sie sind von selbst darauf gekommen. Was daraus wird und ob sie die Strecke dann durchstehen, kann ich nicht sagen. Aber sie haben entdeckt, dass ein bisschen Mühe durchaus viel bringt.

Solche Dinge ermutigen mich, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Es ist etwas ganz anderes als die Jugendlichen nur zu hüten, zur Schule zu schicken, ihre Lärm-Maschinen im Hause infernalisch heulen zu hören, ihre Aggressionen auszuhalten, ihre Zerstörungswut hinzunehmen und sie letztlich lebensuntüchtig dem Arbeitsamt, der Sozialfürsorge und dem Elend zu überlassen.

Christian Martens